Was Menschen mit Behinderung können und was nicht

In der ersten Zeit, als ich gerade angefangen hatte, meinen Roman „Dein Weg, meine Liebe“ zu schreiben, erzählte ich nur wenigen Freunden von meinem Projekt. Von den wenigen, die ich einweihte, waren erstaunlich viele in einem ganz zentralen Punkt skeptisch: Ein querschnittgelähmter Karatelehrer? Das geht doch gar nicht! Das kann der gar nicht können! Denn beim Karate, das weiß jedes Kind, wird gesprungen und getreten. Für jemanden mit einer körperlichen Behinderung schwerlich möglich. Also können Rollstuhlfahrer kein Karate. Punkt.

Ich war überrascht. Menschen, die sich mit harschen Worten dagegen gewehrt hätten, unterschätzt zu werden, waren sich todsicher, dass Querschnittgelähmte kein Karate können und ich doch tunlichst besser recherchieren solle, bevor ich mich mit so einer Geschichte komplett lächerlich mache. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass keiner meiner Freunde jemanden mit Querschnittlähmung kennt und folglich auch niemanden, der Rollstuhlkarate trainiert.

Rollstuhlbasketball statt Karate?

Ich muss gestehen, dass ich enttäuscht war. Menschen, die mich eigentlich kennen müssten, trauten mir nicht zu, dass ich mich über ein Thema ausreichend informierte, bevor ich darüber schrieb. Ohne mit der Wimper zu zucken, empfahlen sie mir, Etienne Basketball spielen zu lassen. Von Rollstuhlbasketball hatten sie tatsächlich schon gehört. Dieser Sport wird Menschen mit Behinderung schon in den Rehazentren empfohlen, also muss er für Querschnittgelähmte möglich sein. Mir fiel meine eigene Bekanntschaft zu einem Querschnittgelähmten ein. Wir waren uns eine Weile sehr nahe, und was mich an seiner Situation am nachhaltigsten schockierte, war die Tatsache, dass er als junger Mann nicht frei hatte wählen dürfen, in welchem Beruf er einmal sein Geld verdienen würde. Er hatte aufgrund seiner Behinderung Assistenz gebraucht an der Universität, die Assistenz musste von der Krankenkasse bezahlt werden, und das tat sie nur, solange er ein Studienfach wählte, nach dessen Abschluss es als „aussichtsreich“ galt, dass er eine Anstellung finden würde. Jura galt als aussichtsreich. Auch Lehrer durfte er werden. Oder Sozialpädagoge. Pharmazie, Journalismus oder Sport waren vom Tisch. Da hätte er die Assistenz aus eigener Tasche zahlen müssen. Im Endeffekt entschieden Sachbearbeiter in Versicherungen und das Personal im Rehabilitationszentrum über seine berufliche Zukunft.

Nicht ohne meinen Traumjob

Damals – in den 90er Jahren – lernte ich, dass man in Deutschland sein Recht auf freie Berufswahl mit dem Erwerb einer Behinderung verlor.
So viele junge Menschen entscheiden sich für einen Beruf, den Erwachsene ihnen nicht zutrauen. Ich selbst wollte Journalistin werden, aber man riet mir ab. Zwar könne ich gut schreiben, sei aber zu kontaktscheu, um auf Menschen zuzugehen, sie zu interviewen und Informationen aus ihnen herauszubekommen. Ich fand Wege, meine Kontaktscheu zu überwinden. Als ich eines Tages nach einem Sondierungsgespräch beim „Spiegel“ direkt zu einem Interview mit Dirk Manthey fuhr, damals Verleger der Verlagsgruppe Milchstraße, dachte ich, dass ich es diesen Menschen, die nicht an mich geglaubt hatten, gezeigt hatte. Sie erfuhren es nie, aber ich war über alle Zweifel erhaben. Ich hatte die Erwartungen übertroffen.

Viele behinderte Menschen in Deutschland haben nicht die Chance, Erwartungen zu übertreffen.
Man traut es ihnen nicht zu.
Man lässt es nicht zu.

Erwartungen übertreffen

In Deutschland haben wir ein System, das in dem Ansinnen, sich um Menschen mit Behinderung zu kümmern, diese mehr behindert, als ihre Behinderung.
Zwei Jahrzehnte nach meiner Erkenntnis, dass nicht alle Menschen die Chance haben, ihre Träume zu leben und in sie gesetzte Erwartungen zu übertreffen, entschied ich: Mein querschnittgelähmter Protagonist bleibt Karatelehrer. Denn: Man kann nach einem Unfall aufhören, etwas zu tun. Aber man kann nicht aufhören, etwas zu sein. Dieser Satz von Etienne stammt ursprünglich von der amerikanischen Rodeoreiterin Amberley Snyder. Nach einem schweren Autounfall eröffneten ihr die Ärzte, dass sie querschnittsgelähmt sei und nie wieder Rodeo reiten könne. Das erste war ein Fakt. Das zweite ein Desaster.
Wenn man einen Traum hat, etwas, wofür man lebt, was man mit so viel Herzblut tut, dass es Teil der eigenen Persönlichkeit ist, dann will man das nicht einfach aufgeben, weil da plötzlich eine Behinderung ist.
Dann will man Mittel und Wege finden, diesen Traum dennoch zu leben.
Und wo ein Wille ist, ist meist auch ein Weg. (Es sei denn, er wird durch Bürokratie verbaut.)

Wider die Wohlmeinenden

In Deutschland möchten wir politisch korrekt sein, sind aber stattdessen auf eine diskriminierende Weise wohlmeinend.
Eine Gymnasiastin möchte nach einem schweren Skiunfall zurück an ihre alte Schule, um dort ihr Abitur zu machen. Sie ist hochgradig querschnittgelähmt mit eingeschränkter Handfunktion. Man sagt ihr, der Wechsel an eine Behindertenschule wäre doch sicherlich viel besser für sie. (Hätte nebenbei auch den Vorteil, dass sich die Schule nicht mit Nachteilsausgleich und Barrierefreiheit herumschlagen muss.) Erst nach einer Ausnahmegenehmigung des Kultusministeriums darf sie die Regelschule weiter besuchen. Inklusion in Deutschland, so lernen wir daraus, ist die Ausnahme. Das Grundrecht, das Menschen gleich behandelt werden sollen, ist noch lange nicht in der Realität angekommen.

Barrieren im Kopf

Wo Behörden, Kassen, Unternehmen zögern und hadern, ist Otto-Normal-Bürger schnell in seinem Urteil. Eine Büroassistentin im Rollstuhl? Lieber nicht. Man kann sie doch schlecht zum Kopieren oder Kaffeekochen schicken. Außerdem wird sie bestimmt oft krank oder wird andere um Hilfe bitten und sie damit vom Arbeiten abhalten.
Ganz zu schweigen von ausgefalleneren Jobs. Ein blinder Synchronsprecher? No way, wie soll der seinen Text lesen? Doppelter Rückwärtssalto im Rollstuhl? Kann nicht klappen. Rückwärtssalto ohne Rollstuhl, aber gelähmt auf dem Motorrad? Da fehlt die Balance. Eine querschnittsgelähmte Rodeo-Reiterin? Haha, guter Witz.
Dass die meisten Fußgänger keine Ahnung davon haben, welche Einschränkungen eine Behinderung tatsächlich mit sich bringt und was sich mit den passenden Hilfsmitteln bewältigen lässt, hält sie nicht davon ab, Menschen mit Behinderung Fähigkeiten abzusprechen.
Dabei fehlt es meist nicht denjenigen mit Behinderung an Fähigkeiten, sondern denjenigen ohne Behinderung an Fantasie!

Frisches Denken

Vieles ist möglich, wenn man sich wirklich damit auseinandersetzt Probleme zu lösen. Es gibt unzählige Hilfsmittel. Außerdem sind Behinderung nicht alle gleich, auch dann nicht, wenn sie unter einem Oberbegriff zusammengefasst werden. Querschnittlähmung ist nicht gleich Querschnittlähmung. Selbst Menschen mit gleicher Lähmungshöhe können zu unterschiedlichen Dingen fähig sein. Davon abgesehen unterscheiden sich auch Menschen mit Behinderung in ihrem Charakter, ihrer Lebenseinstellung, ihrer psychischen Verfassung. Der Popcorn verzehrende Kinogänger hat von Jojo Moyes in „Ein ganzes halbes Jahr“ erfahren, dass ein hochgradig Querschnittgelähmter lieber stirbt, als mit der Frau, die er liebt und die ihn liebt, eine Zukunft zu gestalten.
Zu dumm nur, dass diese Geschichte nicht die Einstellung der Mehrheit von Menschen mit Behinderung wiedergibt. Die meisten dürften mit ihrer Behinderung so glücklich oder unglücklich sein, wie Menschen ohne Behinderung.

Wer keine Ahnung hat …

Niemand möchte unterschätzt werden. Jeder möchte die Chance haben, andere zu überraschen, ihre Erwartungen zu übertreffen.
Und jeder verdient diese Chance!
Wenn ich mir etwas von den Leserinnen und Lesern meines Roman „Dein Weg, meine Liebe“ wünschen dürfte, dann dies: Wenn ihr Menschen mit Behinderung trefft, sagt ihnen nicht, was sie nicht können. Diese Menschen wissen selbst, was sie wollen, und meist auch, was sie brauchen, um es zu können. Oft haben sie schon die Lösung, während ihr noch grübelt, ob dieses oder jenes wohl möglich ist.
Lasst sie euch überraschen. Ihr werdet staunen.
Die querschnittgelähmte Rodeo-Reiterin ist keine Fiktion. Auch nicht die Salti schlagenden Rollifahrer und der blinde Synchronsprecher.
Der Weltmeister im Rollstuhlkarate der WM 2014 hat tatsächlich einen französischen Namen, ist aber Belgier: Franck Duboisse.

Übersicht der erwähnten Personen

Amberley Snyder, querschnittgelähmte Rodeoreiterin

Pete Gustin, blinder Synchronsprecher

Aaron „Wheelz“ Fotheringham, landete ersten (doppelten) Rückwärtssalto im Rollstuhl und erfand mit WCMX eine eigene Sportart

Bruce Cook, querschnittgelähmter Motorrad-Stuntman

Jojo Moyes, Autorin „Ein ganzes halbes Jahr“

Franck Duboisse, Weltmeister im Rollstuhlkarate 2014

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