Das große Interview mit Vika und Etienne 6-10
Was willst du mehr als alles andere? Was ist dir total egal?
(6. September)
Etienne checkt an der Hotelrezeption aus. Dass er Englisch sprechen kann, scheint den jungen Mann am Desk zu überfordern. Er sieht immer wieder zu Vika hinüber, aber die ignoriert ihn und wendet sich an Alizée, die noch ein letztes Mal die Aussicht genießt.
Vika: Du weißt schon, dass ich jede Minute mit Ett brauche, um einen Schlachtplan für zu Hause zu entwerfen. Diese Fragen halten uns alle auf.
Alizée: Ja, das ist traurig. Social Media kostet uns alle zu viel Lebenszeit. Aber diese Challenge ist eine hervorragende Möglichkeit, euch kennenzulernen und Interesse an eurer Geschichte zu wecken. Davon haben wir alle was. Außerdem ist mir aufgefallen, dass ich selbst manche Antworten nicht kenne. Zum Beispiel: Was will Ett mehr als alles andere? Karate?
Etienne hat endlich bezahlt und dreht sich genervt um: Jetzt begibst du dich auf das Niveau meines Vaters. Ich denke, was ich wirklich will, siehst du gerade. Ich will, dass die Menschen, die ich liebe ohne Angst und Schuldgefühle leben können. Dafür stelle ich auch meine eigenen Bedürfnisse zurück.
Alizée: Und Vika? Scheiße, warum weinst du jetzt??
Vika: Weil ich endlich mein inneres Gleichgewicht zurück will! Ich will mir wieder selbst vertrauen können und keine Angst haben, dass meine Menschenkenntnis wieder versagt. Ich will wieder lieben können! Mich selbst und diesen verrückten Kerl da an meiner Seite. Und es ist mir scheißegal, ob der Autorin das in den Kram passt.
Alizée: :-/
Mit/ohne was wäre die Welt ein besserer/schlechterer Ort?
(7. September)
Alizée, Vika und Etienne warten in der griechischen Mittagshitze auf das Taxi zum Flughafen. Alizée postet lila Kacheln in ihr Handy. Vika weint.
Vika: Du hast unseren Urlaub ruiniert.
Alizée: Nicht doch. Ihr werdet ihn in guter Erinnerung behalten.
Vika: Toller Trost. Die Welt wäre besser ohne Typen, die sich mit unlauteren Methoden Vorteile verschaffen wollen und, wenn sie auffliegen, Unschuldige in Gefahr bringen, um ihr eigenes Image zu retten.
Etienne: Die Welt wäre auch besser ohne Treppen.
Alizée: An einem Ort wie diesem schwer umsetzbar. Das Hotel, in dem ihr bis eben ward, hätte wohl kaum ohne Treppen gebaut werden können.
Etienne: Ich behaupte, wenn sich findige Architekten beizeiten Gedanken gemacht hätten, hätte auch dieses Hotel barrierefrei gebaut werden können. Der Punkt ist nicht, dass es nicht anders geht, sondern dass nicht daran gedacht wird.
Vika: Die Welt wäre besser ohne Krankheiten und Behinderungen.
Etienne: Pah. Wo sind wir jetzt gelandet? In einer Utopie? Alizée ist keine Fantasy-Autorin und wenn wir die Welt verbessern, dann doch so, dass es zumindest theoretisch möglich wäre. Nicht mit einem Ruf nach Glitzer-Einhorn-Taxis. Alle Menschen sollten Karate üben. DAS würde die Welt besser machen.
Vika: Du spinnst wohl. Männer sollten aufhören, Frauen die Grenzen ihrer Fantasie zu mansplainen. DAS wäre mal was.
Etienne: Was? Ich habe nicht … Denkst du etwa, dass ich …?
Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch lächelt Vika. Alizée zieht ihr Notizbuch aus der Handtasche.
Was kannst du richtig gut? Was überhaupt nicht?
(8. September)
Alizée: Da wir ohnehin am Flughafen warten müssen, erzählt doch mal, was ihr richtig gut könnt und was überhaupt nicht. Vielleicht lenkt euch das ein bisschen von der Tatsache ab, dass ihr euren Urlaub abbrechen müsst.
Vika: Puh. Also, ich bin unsportlich und kann bestenfalls nach Rezept kochen. Für das kreative Kombinieren von Zutaten fehlt mehr jede Fantasie.
Etienne: Orrrr …. Bist du echt so eine typische Frau und zählst erstmal auf, was du alles nicht kannst? Das gibt’s doch nicht!?
Vika: Sorry. Mein Selbstbewusstsein hat nach den jüngsten Nachrichten etwas gelitten. Aber natürlich gibt es auch Sachen, die ich gut kann. All das kreative Zeug: Malen, Basteln, Heimwerken. Und singen kann ich. Ich war die „Queen of Karaoke“.
Etienne: Warum höre ich dich nie singen?
Vika: Weil mein letzter Freund gestorben ist, während ich mich beim Karaoke vergnügt habe?
Etienne: Und jetzt bist du abergläubisch?
Vika: Nein. Aber es würde sich komisch anfühlen.
Etienne: Also willst du jetzt nie wieder singen? Obwohl du es gut kannst?
Vika: Doch. Irgendwann. Aber wünsch es dir nicht zu hart, Cheri. Bei meiner Version von Leonard Cohen’s „Hallelujah“ wirst du auf jeden Fall weinen.
Etienne: Ich habe kein Problem damit, vor dir zu weinen, Cherie.
Vika: Gut so. Jetzt bist du dran mit Angeben.
Etienne: Naja, bei mir ist es nicht so überraschend, dass ich objektiv betrachtet wohl ganz gut im Karate bin. Aber ich kann auch gut schwimmen. Außerdem kann ich ohne Rezept kochen, wenn jemand das Gemüse schneidet. Ich bin gut im Organisieren und kann gut mit Menschen.
Vika: Und du bist der typische Mann. Du kannst eigentlich alles.
Etienne: Stimmt nicht. Ich kann nicht laufen. Das ist so offensichtlich, das muss ich nicht groß erwähnen.
Vika: Außer für die, die dich nicht sehen und denen du diese Info vorenthältst.
Etienne: Sorry, not sorry. Hin und wieder mag ich auch mit Menschen ins Gespräch kommen, ohne dass deren Kopfkino alles blockiert. Ich bin mehr als meine Behinderung. Komm klar.
Vika: Das tue ich, Cheri. Das tue ich.
Gehst du mit dir selbst freundlich um?
(9. September)
Alizée, Etienne und Vika sind am Flughafen angekommen. Sie warten auf den Assistenzservice, der Etienne beim Einchecken helfen soll, als Alizée ihre Protas mit der nächsten Frage belästigt.
Alizée: Gehst du mit dir selbst freundlich um?
Etienne: Mein Körper hat wegen meiner Querschnittlähmung ziemlich hohe Ansprüche an dieses „freundlich“. Das nervt manchmal. Ich meine, ich bemühe mich, Druckstellen zu vermeiden und alle Gelenke durchzubewegen. Aber ich habe auch noch ein Leben. Ich hasse diese Termine bei der Physio, wo ich eine halbe Stunde festgeschnallt herumstehe oder zusehe, wie die Therapeutin meine Beine bewegt. Da gehe ich lieber schwimmen oder verkloppe den Sandsack.
Vika: Oder deinen Kleiderschrank.
Etienne: Heiligenschein Jedenfalls brauche ich ein Ventil, um Frust abzulassen. Ohne geht es nicht.
Vika: Ich habe in Sachen Freundlichkeit zu mir selbst noch Einiges zu lernen. Mit meinem Körper gehe ich zwar pfleglich um, der ist aber auch ziemlich anspruchslos. Meine Haltung zu mir selbst ist schwierig. Ich mache mir oft Vorwürfe, bedauere meine Entscheidungen, wünschte, ich hätte anders gehandelt und stelle mir vor, wie alles gekommen wäre, hätte ich bloß das Richtige getan.
Etienne: Es wäre eine andere Geschichte. Eine Vika-und-Daniel-Geschichte. Oder eine Vika-geht-ihren-Weg-Geschichte. Ob das besser wäre, werden wir nie erfahren.
Vika: Manchmal denke ich, dass ich die große Liebe gar nicht verdient habe.
Etienne: Du hast jedes Glück verdient. Einen Freund ohne Behinderung zum Beispiel.
Vika: Pfff. Ich habe kein Problem mit dem Modell auf Rädern.
Etienne: Aber ich vielleicht?
Vika: Von der Etienne-kann-laufen-Geschichte wissen wir auch nicht, ob sie besser wäre. Außerdem sagst du doch immer, das Was-wäre-Wenn ist nichts für dich. Dabei fände ich den Gedanken ja manchmal ganz reizvoll, was du tun würdest, wenn du laufen könntest. Jetzt gerade zum Beispiel.
Etienne: Hm. Jetzt? Ich würde dich küssen.
Vika: Dazu musst du nicht laufen können.
Etienne: Eben. *knuuuutsch*
Was macht dich froh?
(10. September)
Etienne: So. Wir warten am Gate. Alizée ist im Duty Free und wenn sie sich weiter so mit Social-Media-Challenges verzettelt, sitzen wir in zwei Wochen noch hier.
Vika: Du übertreibst. Sie hat uns eine Frage dagelassen.
Etienne: Erinnere dich mal an Weihnachten. Da saßen wir zwei Wochen im Flugzeug nach Athen, weil sie nicht in die Pötte kam. Eine Zumutung so was! Wie ist die Frage?
Vika: Was macht dich froh? Also, mich macht die Natur froh. Da reicht schon ein Stück Rasen mit Gänseblümchen und Marienkäfer. Und ich mag es zu wissen, dass jemand für mich da ist. Und du?
Etienne: Gleichfalls. Und mich macht froh, wenn eine Kata so richtig gut gelingt.
Vika: Kann eine standardisierte Karate-Choreographie ohne Gegner jemals gelingen? Ist es nicht vielmehr so, dass zur Perfektion immer noch Dieses oder Jenes fehlt?
Etienne: Es geht nicht um Perfektion. Es geht darum, sie so gut zu machen, wie du sie machen kannst. Es ist ein Fluss. Schwer zu beschreiben. Du solltest es ausprobieren.
Vika: Wovon träumst du nachts? Ich wäre nach einer Kata allenfalls froh, wenn meine Knochen danach noch heil sind.
Etienne: Bei den Katas gibt es keinen Gegner.
Vika: Ich könnte stolpern.
Etienne: Was ist das bloß mit meinem Leben, dass meine Frauen immun sind gegen die Kunst des gepflegten Handkantenschlags?
Vika: Öhm… Mit wem wirfst du mich da gerade in einen Topf?
Etienne: Mit meiner Schwester.
Vika: Okay. Das ist erlaubt. Sie hat nie Karate gemacht?
Etienne: Nope. Als wir klein waren, wollte ich ihr zeigen, wie toll Karate ist und habe sie gebeten, einen Ziegelstein festzuhalten, damit ich ihn mit der Hand durchschlage.
Vika: Und? Sie war nicht beeindruckt?
Etienne: Wie gesagt, wir waren Kinder. Der Stein ist Lou-Lou auf den Fuß gefallen und hat ihr den Zeh gebrochen.
Vika: Oh no.