»Friday for Friendship« (Leseprobe)

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Diese Kurzgeschichte wird im Rahmen der Anthologie »Wir schreiben für euch« im August 2021 veröffentlicht. Eine kostenlose Leseprobe möchte ich hier mit euch teilen.

Friday for Friendship

Julia öffnete die schweren Holztüren des Kleiderschranks. Sofort umfing sie der geliebte Geruch. Tief sog sie ihn ein und ließ ihre Fingerspitzen über die Garderobe gleiten. Sie zog ein Kleid mit tiefem Ausschnitt hervor. Darunter würde sie einen Rollkragenpullover tragen und den überschüssigen Stoff mit einem Gürtel zusammenhalten.

In der Küche roch es nach Kaffee und frischem Toast.

»Erd oder Him?«, fragte Anne.

»Was ist mit Brom?«

»Ist alle.«

Julia seufzte. »Dann Him.«

Sie nahm am Küchentresen Platz, auf dem Anne Teller, Toast, Messer und Marmeladenglas abstellte und spürte dem Vibrationsstakkato ihres Handys nach, das im Sekundentakt Kurznachrichten empfing. Bestimmt Murats Gutenmorgengruß und die tägliche Frage, welchen Bus sie nehmen würde. Sie grinste.

*

An der Bushaltestelle verabschiedete sie sich von Anne. Diese drückte Julia einen Kuss an die Schläfe, dann klapperten ihre hohen Absätze eilig zurück zum Auto. So viel dazu, der Umweg mache keinen Unterschied. Seufzend schob Julia sich einen Kopfhörer in die linke Ohrmuschel und setzte das Hörbuch fort. Judith Hermann, »Sommerhaus, später«. Von der Autorin selbst gelesen. Sie hätte es gestern beenden sollen, aber der Chat mit Murat war interessanter gewesen. (Was, wenn alle Menschen um uns herum nur ausgedacht und wir als Einzige echt sind? Was, wenn wir die Ausgedachten sind? Hilfe!) Zum Glück konnte Judith Hermann auf Knopfdruck auch schneller lesen. Sie klang nun zwar wie Melinda aus Animal Crossing, aber dank ihrer Superkraft konnte Julia sie immer noch perfekt verstehen.

Im Bus setzte sie sich auf ihren Stammplatz über dem linken Hinterrad. Leicht erhöht. Angeblich gut zu sehen von hinten, wo sich Murat und die coolen Jungs jeden Morgen zu den Lassmann-Zwillingen auf die Rückbank quetschten. Julia spürte den warmen Mief der Lüftung auf ihrer Haut und Murats entferntes Lachen darunter.

Fünf Haltestellen später stiegen die Tussis von der Unser-Abschluss-ist-mehr-wert-als-eurer-Schule ein. Parfümierte Hälse, deobesprühte Achseln, duftshampoonierte Mähnen. Eine Drogerie auf sechs Beinen.

»Morgen zu Fridays for Future, oder?«, tönte eine, deren quäkende Stimme Judith-Melinda in Julias Kopfhörer Konkurrenz machte. »Meine Mutter fährt uns. Wir gehen zur Demo und danach zu Starbucks. Das Plakat ist mega. Wenn wir es damit bis zur Bühne schaffen, kommen wir auf jeden Fall ins Fernsehen!«

Julia spürte, wie die Wut aus ihrem Bauch hochstieg, durch ihren Hals hinaufschoss und sich ihrer Zunge bemächtigte. Was gab der hochfrequenten Hohlhippe das Recht, Klimaschutz in den Dienst ihres Li-La-Laune-Lifestyles zu stellen?

»Dir wird bestimmt eine Sondersendung gewidmet: ‹Verpeilt oder verlogen? Verstand von GenZ-Aktivistin hat mehr Defizite als das Klima‹. Mit der Co2-Schleuder auf einen Caramel Macchiato im Einwegbecher zur Klimademo. Mannomann … «

Für einen Moment wurde es still. Julia konnte hören, wie der Bus blinkte und sich einer der Jungs von der Rückbank räusperte. Murat?

»Du bist ja bloß zu feige zum Schwänzen.« Nicht die Quäkstimme, sondern eine ihrer Freundinnen. Sollten sie sich doch in der Überzahl wähnen. Julia fühlte sich sicher.

»Pah. Ich tue mehr für den Planeten als Plakate hochhalten.«

»Klar. Klamotten containern für weniger Müll. Vielleicht solltest du wenigstens was in deiner Größe suchen.«

Julia verkrampfte sich. Die Mädchen lachten. Sie hörte es kaum. Auch Judith-Melinda vernahm sie nicht mehr. Nur ihr eigener dumpfer, immer schneller rasender Herzschlag erfüllte ihre Ohren. Panik umschloss ihre Kehle. Sie musste weg hier. Hastig stand sie auf, rempelte jemanden an, griff nach der Haltestange neben der Tür, und begann zu zählen. Bei sechs stand Murat neben ihr.

»Hey, Jules. Was stinkt dir?«

»Langhaarmädchenkokosölshampoo. Echt zum Kotzen.«

Er lachte und Julia spürte eine plötzliche Wärme dort, wo sich ihre Oberarme berührten.

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