Haben wir Autorinnen eine Verantwortung?

 

24. Mai 2020 – Immer mal wieder beginnt auf Facebook, Twitter oder Instagram diese Diskussion, ob Menschen, die Bücher schreiben, eine Verantwortung tragen.

Mission versus Unterhaltung?

Die Positionen werden zumeist klar bezogen: Auf der einen Seiten stehen die Autorinnen und Autoren mit einer Botschaft. Sie wollen auf etwas hinweisen, auf Unrecht aufmerksam machen, Verhaltensweisen anprangern, eigene Traumata schreibend verarbeiten. Auf der anderen Seite beziehen jene Vertreter:innen der schreibenden Zunft Position, die in erster Linie unterhalten wollen. Sie wollen nicht belehren, nicht missionieren, sie verzichten auf den erhobenen Zeigefinger, während sie für den maximalen Genuss ihrer Leser:innen in verdunkelte Schlafzimmer, zwielichte Straßen oder psychische Abgründe leuchten.

Am Thema vorbei

Interessanterweise werden in diesen Diskussionen sehr häufig aufbauend auf der Frage, ob jemand eine Botschaft hat oder „nur“ unterhalten will, noch ganz andere Trennungen vollzogen. Diejenigen mit der Botschaft sind dann oft die „Unprofessionellen“, die, die nicht zuerst an die Leser:innen denken. Diejenigen, die folglich auch kein Geld mit ihrer Mission verdienen, die als Selfpublisher:innen die hinteren Plätze der Verkaufsrankings besiedeln. An diesem Punkt wird die Diskussion dann oft persönlich. Wer professionell sein wolle, habe sich nun einmal nach dem Geschmack der Zielgruppe zu richten und den erhobenen Zeigefinger gefälligst über die Tastatur zu senken.
Dabei geht es doch bei dem Thema Verantwortung gar nicht darum, wie gut oder schlecht einzelne Autorinnen oder Autoren ihre Zielgruppe erreichen.

Was heißt hier Verantwortung?

Wenn ich über das Thema Verantwortung nachdenke, unterscheide ich nicht zwischen professionellen Schreibenden, die von ihrer Tätigkeit leben können, und Menschen, für die Schreiben eher ein Hobby ist. Es geht mir eher um die Frage, ob sie sich mit dem Tham Verantwortung auseinandersetzen oder nicht. Meiner Meinung nach steht das überhaupt nicht im Widerspruch zu dem Wunsch zu unterhalten oder der Fähigkeit, die eigene Zielgruppe besonders gut anzusprechen. Die Verantwortung der Autorinnen und Autoren ist für mich zunächst übergeordnet und allgemein.

Fiktive Vorbilder

Bücher (und Filme) prägen ein Stück weit unser Weltbild. Wenn wir an unsere Kindheit zurückdenken, erinnen wir uns sofort an bestimmte Figuren, die uns beeindruckt haben. So wie sie wollten wir sein, zumindest ein bisschen. So unabhängig wie Pippi Langstrumpf, so mutig Old Shatterhand, so schlau wie Hermine. Und später wollten wir vielleicht so gut tanzen können wie Baby in „Dirty Dancing“ oder so cool sein wie Trinity in „Matrix“. Natürlich können wir zwischen Fiktion und Realität unterscheiden.
Trotzdem verändern auch mündige Leser:innen bewusst oder unbewusst ihre Sicht- und Verhaltensweisen, wenn sie immer wieder mit bestimmten (fiktiven) Situationen konfrontiert werden.

Prägende Verhaltensmuster

Wer sich zum ersten Mal auf eine Liebesbeziehung einlässt, hat bereits sehr viele Vorstellungen im Kopf, wie diese aussehen sollte. Und die „Vorbilder“ sind zumeist nicht die eigenen Eltern. Wer also speziell für junge Zielgruppen schreibt, prägt – gewollt oder ungewollt – deren Beziehungsvorstellungen. Mädchen, die romantische Geschichten konsumieren, in denen der männliche Protagonist die weibliche Protagonistin, an die Wand drückt, gegen ihren Willen küsst oder vor Freunden bloßstellt, werden womöglich geneigt sein, dieses Verhalten auch in der Realität als „Liebesbeweis“ zu akzeptieren. Umgekehrt könnten junge Männer glauben, dieses Verhalten würde von ihnen erwartet.
Dieser Verantwortung kann man sich schreibend stellen – oder auch nicht. Das hat nichts damit zu tun, mit erhobenem Zeigefinger unterwegs zu sein oder Leser:innen zu missionieren.

Sadomaso-Vampire

Stephanie Meyer, Verfasserin der weltberühmten Twilight-Saga, idealisiert in ihrem Welt-Bestseller eine Beziehung, in der Sex erst nach der Ehe stattfindet, und in welcher der Mann der Beschützer ist, der zum Schutz der Frau auch Dinge tun darf, die ihr gruselig vorkommen (zum Beispiel nachts in ihr Zimmer einsteigen und sie im Schlaf beobachten). E.L. James (begeisterte Twilight-Leserin) postuliert lautstark, dass auch außergewöhnliche Sexpraktiken okay sind, wenn beide Beteiligten sie genießen. Man kann Meyer und James sicherlich Einiges vorwerfen, nicht aber, dass sie ihre Leser:innen langweilen.

Die Welt besser schreiben

Wie ich zu dem Thema Verantwortung stehe, habe ich in der Biografie in meinem Instagram-Profil kurz zusammengefasst: Wir können die Welt besser schreiben. Ich glaube, dass wir die Welt schreibend verbessern und Menschen dazu bringen können, ihr Verhalten zu reflektieren. Das glaube ich wirklich und damit meine ich nicht, dass wir die Moralkeule schwingen und den lieben Leserinnen und Lesern erklären sollten, wie sie sich bitte schön verhalten müssen. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, wie es auch gehen kann. Show, don’t tell.

Romantik ohne Übergriffe

Eine Liebesbeziehung kann auch ohne Übergriffe, Bevormundung, Bloßstellung und Witze auf Kosten des anderen romantisch sein. Eine Protagonistin muss nicht klein, süß, jungfräulich und tollpatschig sein. Sie darf auch einen Willen haben, eigene Prinzipien, eine Vergangenheit und ihre ganz persönliche Problemlösungskompetenz, die sich von der des Protagonisten unterscheidet. Das bedeutet übrigens nicht, dass meine Romane langweilige Alltagsrealität beschreiben; meine Protas befinden sich eigentlich die meiste Zeit im Ausnahmezustand. Was aber darunter mitschwingt, ist eine Ahnung davon, wie unser Miteinander hier auf diesem Planeten besser gelingen kann. Nicht im Sinne einer Anleitung, eher in Form von Reflexion und Streben.

Etienne Jeancour

Etienne Jeancour, der Protagonist in „Dein Weg, meine Liebe“ und auch in meinem neuen Roman, ist querschnittgelähmt. Immer mal wieder trifft er auf Fußgänger, die sich ihm gegenüber seltsam verhalten. Die Protagonistin, Vika, eingeschlossen. Dass diese Situationen aus seiner Perspektive und oft ohne Wertung beschrieben werden, hat bei nicht wenigen Menschen dazu geführt, dass sie ihr eigenes Verhalten überdacht und ein Stück weit verändert haben. Dass sie nicht NUR MAL KURZ auf dem Behindertenparkplatz parken.

Öfter mal reflektieren

Es ist keine große Sache, aber wenn ich davon höre, dass jemand sein eigenes Verhalten reflektiert und sich vielleicht eine dumme Frage verkneift, die einfach nicht witzig ist, wenn man sie ständig hört („Ey, darfst du betrunken überhaupt Rollstuhlfahren?“), dann freut mich das. Insofern nehme ich die Verantwortung gern an. Es gibt nicht viele Bücher, in denen Protagonisten mit sichtbarer Behinderung im Leben stehen, positiv denken, etwas BEWIRKEN und nicht ein ganzes halbes Jahr ihren Selbstmord planen.

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