Jojo Moyes und ich
Auf meiner Mini-Lesereise hatte ich diesen Monat die Gelegenheit, die große Jojo Moyes live zu erleben. Im Rahmen der Leipziger Buchmesse bestritt sie den großen „Leipzig liest„-Abend im Großen Kupfersaal. Als ich meine kleine Reise plante, hatte ich ursprünglich vorgehabt, nach Erfurt und Halle auch in Leipzig zu lesen. Eine kleine Zuhörerschaft versammeln und irgendwo aus „Dein Weg, meine Liebe“ vorlesen und mit Menschen ins Gespräch kommen.
Der Donnerstagabend (15. März) bot sich an. Allerdings gestaltete sich die Organisation schwierig. Ich war reichlich spät dran und weiß Gott nicht die einzige Autorin mit dem Ansinnen, in Leipzig zu lesen. Die Räumlichkeiten waren ausgebucht, ein privater Ausrichtungsort ließ sich auf die Schnelle auch nicht mehr finden.
Leipzig liest
Also recherchierte ich das Konkurrenzprogramm für den Abend – und stieß sogleich auf Bestsellerautorin Jojo Moyes. Da fiel es mir nicht schwer, mich von meinen eigenen Leseplänen für Leipzig zu verabschieden. Sofort buchte ich eine Karte im Vorverkauf für Jojos Lesung und packte geistesgegenwärtig auch ihre Bücher zum Signieren ein. Denn mit Jojo Moyes‘ Mega-Bestseller „Ein ganzes halbes Jahr“ verbindet mich so Einiges.
Schrecksekunde im Schreibprozess
Wie Einige bereits wissen, schrieb ich „Dein Weg, meine Liebe“ zwischen Sommer 2012 und Jahresende 2016 parallel zu Vollzeitjob und Familie. In dieser Zeit vergrub ich mich in meiner Freizeit radikal mit meinem Manuskript. Ich habe es schon einmal beschrieben, nicht nur der Haushalt ging vor die Hunde, auch mein Medienkonsum sank auf Null. Ich las auch praktisch nichts mehr. Wenn ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, dann im Rahmen meiner eigenen Geschichte. Doch irgendwann bekam sogar ich mit, dass gerade ein Roman mit einem querschnittgelähmten Protagonisten die Bestsellerlisten stürmte. Und ich dachte: Sch****! Wenn ich eines Tages mit meiner Geschichte fertig bin, wird Etienne Jeancour nur noch MeToo sein …
Ein ganzes halbes Jahr
In meiner Panik kaufte ich das Buch und begann zu lesen. Voller Angst, jemand könnte meiner Geschichte vorgegriffen haben und gleichzeitig voller Hoffnung, es möge endlich jemandem gelungen sein, einen Menschen mit Behinderung als attraktiven und begehrenswerten Player einer Liebesgeschichte darzustellen. Meine Sorgen, Will Traynor könnte der erste (und womöglich bessere) Etienne Jeancour sein, verblassten schnell. Ich versank in der Geschichte. Ich lachte, ich heulte, und am Ende dachte ich: Wow, wie mutig!
Ambivalente Gedanken
Seit der Veröffentlichung wurde „Dein Weg, meine Liebe“ immer wieder mit „Ein ganzes halbes Jahr“ verglichen. Mehrfach wurde ich von Leserinnen und Bloggerinnen gefragt, wie ich zu dem Bestseller von Jojo Moyes stehe. Ich sage dann, dass ich den Roman sehr genossen habe. Die Geschichte ist bewegend, herzergreifend, hervorragend umgesetzt. Dennoch habe ich auch zwiespältige Gefühle. Es gibt so wenig Romane mit querschnittgelähmten Protagonisten. Und dann geht dieser so aus …
Ich habe darüber nachgedacht, ob man wohl als Schriftstellerin eine gesellschaftliche Verantwortung hat. Wahrscheinlich nicht. Es gibt die künstlerische Freiheit, jede Schreiberin kann die Geschichte erzählen, die sie erzählen möchte. Niemand muss sich verantwortlich fühlen, der Gesellschaft Vorbilder zu präsentieren. Und doch …
Die Crux mit der gesellschaftlichen Verantwortung
Die Figur des Will Traynor ist lebensnah gezeichnet und durch und durch glaubwürdig. Seine Entscheidung ist nachvollziehbar. Sie ist es unter anderem deshalb, weil viele Menschen ohne Behinderung sehr schnell den Schluss ziehen: Wenn es mich so getroffen hätte wie Will, würde ich auch sterben wollen. Obwohl Will ein Individuum ist und von der Autorin auch nie als etwas anderes gezeichnet wird, dient er als „Vorbild“. Das Leben eines Menschen in seiner Situation erscheint als nicht lebenswürdig. Der Arme leidet, wir Menschen ohne Behinderung können uns kaum vorstellen, in seinem Körper zu stecken. Es erscheint logisch, dass man sterben möchte, um einem so stark eingeschränkten Leben zu entkommen.
Fatale Schlussfolgerung
Diese Botschaft transportiert „Ein ganzes halbes Jahr“ ohne das willentliche Zutun der Autorin. Und in meinen Augen ist es ein Jammer. Da kommt endlich ein Buch daher, das mit einem querschnittgelähmten Protagonisten die Bestsellerlisten stürmt, und dann zementiert es in den Köpfen so vieler Menschen doch wieder nur das alte Vorurteil, dass ein Leben mit starker Behinderung nicht mehr lebenswert ist. Kein Wunder, dass Menschen mit Behinderung insbesondere den Film stark kritisierten.
Unterschiedliche Intentionen
Sie hat die künstlerische Freiheit, die Aussage ihres Werkes zu treffen, wie es ihr richtig erscheint. Das Thema selbstbestimmtes Sterben ist ebenfalls wichtig und hochaktuell. Es ist gut, dass es nicht totgeschwiegen wird. Persönlich habe ich nach der Lektüre von „Ein ganzes halbes Jahr“ aufgeatmet: Etienne Jeancour erblickte nicht als Kopie von Will Traynor das Licht der Öffentlichkeit. Er ist auf seine eigene Art unverwechselbar und er transportiert eine andere Botschaft: Ein Leben mit Behinderung ist kein schlechteres Leben. Es ist reich und voll und hoffentlich erfüllt mit Aufgaben und Wünschen, Freuden und Herausforderungen. Und das Quantum Glück, das Menschen mit Behinderung empfinden, ist womöglich größer als das vieler Nicht-Behinderter. Das hat übrigens der Psychologe Dr. Peter Lude herausgefunden, selbst seit seinem 20. Lebensjahr vom Hals abwärts komplett querschnittgelähmt .
Jojo Moyes on stage
Zurück zu Jojo Moyes, der ich in Leipzig lauschen durfte. Leider las sie selbst nur einen Leseabschnitt auf Englisch. Der Rest wurde von der Schauspielerin Luise Helm auf Deutsch vorgelesen. Zwischendurch stellte der Moderator Fragen und Jojo erzählte einige Anekdoten aus ihrem Leben und Schaffen.
„This will kill your career!“
Das kann ich mir sehr gut vorstellen. In den Köpfen so vieler Literatur- und Verlagsmenschen bieten Figuren mit Behinderung einfach nicht genügend Identifikationspotenzial, um viele Käufer an die Kassen des Buchhandels zu ziehen. Über Behinderungen wollen „die Leute“ nicht lesen, sie sind froh, wenn sie selbst keine haben. Ein Buch mit einem behinderten Protagonisten reduziere seine Zielgruppe somit auf Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. Was für eine irrige Annahme. Die Leserinnen haben gezeigt, dass das nicht so ist. Dennoch hält sich die Einstellung hartnäckig in den Köpfen.
Ein Hollywood-Film mit einem Tetraplegiker ist genug
For a friend of Alizée
Nach der Lesung stellte ich mich mit vielen anderen in die Schlange, um meine Bücher von Jojo Moyes signieren zu lassen. Eine neue Ausgabe ihres aktuellen Buches „Mein Herz in zwei Welten“ ließ ich für eine Freundin von Alizée signieren, denn ich will es über Ostern auf Facebook verlosen. Weil ich davon überzeugt bin, dass in den Herzen vieler Leserinnen Platz ist für ganz viele tolle Menschen mit Behinderung. Und weil ich die Geschichten von Jojo Moyes wirklich liebe. Noch bis zum 8. April läuft das Gewinnspiel auf meiner Facebook-Seite. Die Teilnehmerinnen habe ich gebeten, einen Unterschied zwischen Will Traynor und Etienne Jeancour zu benennen. Interessanterweise kam von mehreren Teilnehmerinnen genau das: Etienne ist positiv, Will negativ, aber das ist auch kein Wunder, schließlich ist er schwerer behindert. Das ist so traurig!! Speziell für Menschen wie Philippe Pozzo di Borgo, Dr. Peter Lude und Samuel Koch, denen wir auf diese Weise implizit zu verstehen geben, dass wir es wirklich gut verstehen würden, wenn sie sich umbrächten.
Wo mich Jojo Moyes inspiriert hat
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Von Alizée Korte | Datum: 30.03.2018